Seminar Storytelling für Werbespots, Virals und Social-Media-Videos. Vom Home-Video zum Viral-Video, Teil 2

19. August 2022


Die Geschichte des Viral-Videos beginnt Anfang der 1990er Jahre, als die ersten Home-Videos im Internet erschienen. Die Filme waren noch mit Super-8-Film gedreht und wurden später für den Upload digitalisiert oder schon mit den ersten Videokameras (VHS/DV) gedreht. Beispiele gefällig? Oma schläft über der Torte ein und ihr Gesicht fällt in die Sahne. Ein Kind purzelt aus der Baby-Schaukel, Onkel Herbert verfängt sich im Gartenschlauch und fällt ins aufblasbare Planschbecken der Kinder. Tante Erika quillt versehentlich der Busen aus dem Bikini. Tante Friedel schleckt das Eierlikörglas leer und setzt es sich auf den Kopf. Eine Katze schaut so fies drein, wie es der Pate nicht besser könnte. Pleiten, Pech und Pannen aus dem Privatleben gepaart mit kleinen Faszinationen. Spontane und authentische Momente mitten aus dem Leben gegriffen – Privates, Absurdes, Investigatives oder Faszinierendes. Raus aus dem privaten, heimischen Wohnzimmer mit Freunden auf dem Sofa, hinein in die sozialen Medien – öffentlich geteilt. 
 
Rückblende und Impact-Vergleich
 
Der Erstversand dieses Videos war am 13. August 2001 an fünf Leute per E-Mail. Bereits zwei Tage später verzeichnete die Webseite 5.022 Besuche. Einen Monat nach dem Start wurden 233.652 Zugriffe gezählt. Das Video stammt von einer Werbeagentur, die auf virale Kampagnen spezialisiert ist: The Viral Factory. Der Film wählt das Extremgenre Splatter und erregt damit maximale Aufmerksamkeit. 
 
Home-Video-Stil. Windgeräusche am Mikro. Den ganzen Film über eine einzige Kameraeinstellung. Totale. Ein Mann mittleren Alters sitzt am Strand und bläst in aller Ruhe ein Schlauchboot auf. Nach einer Weile kommt ein kleiner Junge die Treppen zum Strand heruntergelaufen und stürzt sich voller Vorfreude auf den Rand des Schlauchboots. Der Kopf des Mannes explodiert. Der Titel blendet ein: The Viral Factory. (The Viral Factory, Headrush, 2001)
 
Das Video ist ein Promotionfilm für die Agentur, die auf die Konzeption viraler Kampagnen spezialisiert war. Er verdeutlicht, dass der Bruch mit Tabus und gezielte Scheußlichkeiten eine starke Motivation für die Verbreitung darstellen. Der Impact ist maximal. 100 % Aufmerksamkeit durch Splatter. Du findest das unappetitlich? Ja, es ist unappetitlich, aber auch lustig. Was für Dich vielleicht negativ wirkt, finden andere lustig. Losgelöst vom Geschmack möchte ich einen Pegelstand für den Aufreger einführen. Unser gemeinsamer Abgleich für einen maximalen Impact- und Erinnerungswert eines Videos. Das waren nun 100 % Ausschlag, positiv wie negativ. „Ist das nicht Werbung mit negativen Inhalten?“ Ja, und sehr erfolgreich. „Geht es auch anders?“ 
 
Made for Hollywood
 
Eines der ersten unkommerziellen Viral-Videos, die mich faszinierten, war Flight 405 aus dem Jahr 2000. Damals wartete man noch ungefähr 15 Minuten auf den Download. Bruce Branit und Jeremy Hunt produzierten das Video und stellten damit ihre 3D-Fähigkeiten unter Beweis und erhielten prompt Jobs in Hollywood.
 
Linien, Pfeile und Zahlen auf dem Überwachungsmonitor eines Fluglotsen. Der Funkverkehr zwischen einem Piloten und Fluglotsen. Ein Pilot aus dem Off: „One One Seven Avenue, requesting emergency approach. … Coming down to 175 and proceed to 3,000 feet … Roger that, LAX, we’re not gonna be able to make that approach. We’re having trouble keeping altitude.“ Der Filmtitel blendet ein: „405. A film by Bruce Branit und Jeremy Hunt.“ Ein Jeep Cherokee auf der Autobahn. Impressionen eines überfüllten Highways. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung huscht vorbei, „Maximum Speed 65.“ Darüber die Stimme einer Radioreporterin aus dem Off: „It’s shaping up to be a rough commute out there today. Watch for an accident on the 101 near Sherman Way. And we are just getting word that the 405 southbound has been shut down completely. For, like, some sort of police activity. It’s got it cleared for a two-mile stretch from the 118 all the way up to Victory.“ Ein Blick von einer Autobahnbrücke auf die linke und rechte Fahrspur. Auf der Linken staut sich der Verkehr und auf der Rechten fährt als einziges Fahrzeug der Jeep Cherokee. Die Radiomoderatorin weiter aus dem Off: „As soon we get more information, we’ll let you know. But in the meantime, we’ll get you thrilled with another 40 minutes of your favorite hit songs …“. Im Inneren des Jeeps sitzt ein junger Mann mit Basecap. Die Stimme der Radioreporterin war auch in seinem Autoradio hörbar und jetzt schaut er sich irritiert um. Er fährt ganz alleine auf seiner Straßenseite. Die Autobahntrasse aus der Vogelperspektive. Über die Kamera hinweg fliegt plötzlich ein DC-10-Flugzeug ins Bild und ist jetzt direkt vor uns. Darunter liegt die Autobahn und der Riesenvogel setzt zur Landung an. Der Typ im Jeep hört weiter Musik aus dem Autoradio und tippt rhythmisch mit den Fingern auf den Schaltknüppel. Die DC 10 fährt ihr Fahrwerk aus und die Räder rasten ein. Plötzlich erblickt der junge Mann im Außenspiegel den Riesen im Anflug hinter ihm. Panisch schaut er in den Rückspiegel. Wir sehen das Auto von vorn und direkt dahinter fliegt die DC 10 heran. Die Musik wird dramatischer. Der Typ im Wagen gibt Vollgas und versucht, dem Flugzeug zu entkommen, vergebens. Langsam setzen sich die Räder der Maschine auf den Asphalt, und jetzt senkt sich auch schon die Schnauze des Fliegers. Die Vorderräder setzen auf. Direkt vor dem Flugzeug der im Vergleich winzige Jeep. Die Vorderräder der DC 10 donnern auf den Kofferraum des Wagens und schütteln den Jungen im Wageninneren ganz schön durch. Plötzlich brechen die Vorderräder der DC 10 weg und die Flugzeugspitze kracht auf das Dach des Jeeps. Sirenen dröhnen los. Die Flugzeugspitze hängt auf dem Jeepdach. Die DC 10 und der Jeep rasen die Autobahn entlang. Die Nadel des Tachos im Auto dreht sich über die maximale Geschwindigkeitsanzeige hinaus und vibriert am Anschlag. Der Junge ist völlig panisch, denn jetzt erblickt er auch noch ein einsames Auto direkt vor ihm, auf das sie sicher auffahren werden. Easy Listening Music aus diesem Wagen vor ihm. Darin eine alte Oma, die kaum übers Lenkrad schauen kann. Der Junge hupt und gestikuliert wild mit den Armen. Die alte Dame sieht die Katastrophe nicht kommen und fährt gemächlich ihren Stil. Flugzeug und Jeep kommen bedrohlich näher. Eine Luftaufnahme der Szenerie. DC 10, Jeep und Oma-Auto. Ein Helikopter fliegt unter der Kamera hindurch. Der Junge im Auto sieht die Katastrophe kommen, unternimmt Lenkversuche und verschließt kurz vor dem Aufprall auf den Wagen der Oma die Augen. Nichts passiert. Der Jeep fährt knapp neben ihr vorbei und die hinteren Räder der DC 10 rollen auf der anderen Wagenseite vorbei. Das Oma-Auto passt genau durch die Lücke von Jeep und Flugzeugräder und das Flugzeug rauscht einfach über sie hinweg. Die Oma blickt nur erschrocken zum Jeep-Fahrer. Das Auto der alten Dame schleudert kurz, aber kommt gleich wieder in die Spur. Der Jeep-Fahrer bremst seinen Wagen herunter. Flugzeug und Jeep rollen aus und kommen langsam zum Stehen. Der Junge im Jeep atmet tief durch und ist erleichtert, dass er die Katastrophe überlebt hat. Er kann gerade noch einmal durchatmen, als die Oma vorbeirollt und ihm den Stinkefinger zeigt. Er kann es nicht fassen. Polizeifahrzeuge rollen mit Sirenen auf die Fahrbahn. Die Szene hat sich wieder beruhigt. Ende. (Branit und Hunt, Flight 405, 2000)
 
Großartig, und ein erster Aufschlag für das, was Virals in Zukunft brauchen – Drama. Für die Blockbuster im Internet sind die ersten drei bis fünf Sekunden für den weiteren Verbleib des Zuschauers wichtig. Bei 405 ist das auslösende Ereignis der Pilot mit seiner Ansage: „We’re having trouble keeping altitude.“ Diese ersten Sekunden müssen Dich packen und zum Dranbleiben animieren. 
 
Die Queen of Pop
 
Die Sensation des Films im Internet kam nach dem Jahrtausendwechsel von BMW. Das Unternehmen beauftragte international anerkannte Regisseure mit Kurzfilmen über ihre Autos. Der Name der Serie: The Hire. Wir schreiben das Jahr 2001 und der Regisseur Guy Ritchie dreht mit Madonna den Film Star, Länge 6:54 Minuten. Es entstanden insgesamt acht Filme in zwei eigenständigen Actionfilm-Staffeln. Damals nannte man das noch nicht „Viral“, sondern „Product Placement“. Der Ausspielweg: das Internet. Nur die hatten Freude am Fahren, die einen ISDN-Anschluss hatten: Agenturen und Kreative.
 
Der Film startet mit den Titeln: „Anonymous Content presents STAR. Directed by Guy Ritchie.“ Clive Owen sitzt am Steuer eines BMW M5. Er ist der Erzähler: „The first thing you notice physically about this lady is her eyes …“. Eine Großaufnahme von Madonnas Gesicht mit Sonnenbrille. „… bright blue eyes. It’s rare to actually see those eyes because they are usually covered up, but when you do, it’s worth it. The next thing you notice is her hands, strong, powerful, yet feminine hands …“. Madonna putzt sich mit Handschuhen die Sonnenbrille. „… But the real heart-stopper that this woman has in her galaxy of talents is her voice …“. Madonna öffnet kurz den Mund und das Bild friert ein. „… her billion dollar voice.“ Sie hustet zweimal in den Handschuh. „She‘s a legend.“ Eine Aufzugtür öffnet sich und Madonna verlässt mit zwei Bodyguards den Fahrstuhl. Sie betreten eine Tiefgarage. Auf dem Rücken ihrer Lederjacke steht „Superstar“. „She’s achieved giddy heights few have been called to. She’s unrivaled in her world and she is a complete c…“ Madonna ist am Wagenpark in der Tiefgarage angekommen. Sie schreit: „Glen!!!“ Ihr Manager unterhält sich gerade mit einer Assistentin am anderen Ende der Tiefgarage. Er wirft den Arm wie in der Schule in die Luft und ruft: „Right here, darling. I‘ll be right back“, sagt er noch zur Assistentin und läuft an den Autos vorbei zu Madonna. Madonna: „Glen, get over here!“ Glen: „Glen is flying in. Glen is here to say, you are the bomb.“ Madonna: „Idiot!“ Glen steht jetzt direkt vor ihr und Madonna faucht ihn an: „You are such a moron. This is not what I pay you for.“ Madonna gibt ihm eine Ohrfeige und läuft davon. Glen bleibt etwas verlassen stehen, aber lässt sich nichts anmerken und macht sich mit einem rechten Aufwärtshaken in die Luft wieder Mut. Das Bild friert ein. Clive Owen erzählt weiter: „Glen, her manager for seven years. No backbone on the man.“ Glen gestikuliert groß und sagt: „No problem, sweetheart, we will work it out, okay?“ und läuft ihr hinterher. Clive Owen: „But he gets paid enough not to have one.“ Madonna ist an einer Limousine angekommen, ein Bodyguard hält ihr die Tür auf. Sie dreht sich um und schreit hysterisch: „Coffee, I want my coffee!“ Die Assistentin bringt ihr einen Kaffeebecher. Madonna zu Glen, der wieder neben ihr angekommen ist: „It better not be cold.“ Glen: „Piping! Piping hot.“ Kurz, bevor sie einsteigen will, sagt sie: „I‘m so over black.“ Madonna dreht sich weg und läuft zu einem anderen Auto in der Garage, ein silberner BMW M5, in dem Clive Owen sitzt. Der Wagen war wahrscheinlich für den Manager und die Crew reserviert. Alle laufen ihr hinterher, Glen ist Erster und kann ihr gerade rechtzeitig die hintere Wagentür öffnen. Sie steigt ein, zieht die Tür zu und blafft ihre Entourage an: „Take the bus!“ Glen macht wieder seine Boxergeste, diesmal zu den Bodyguards. Madonna sitzt im Wagen, den Kaffeebecher zwischen die Beine geklemmt. Es wird ruhig, sie atmet tief durch und spricht dann zu Clive Owen, der sie im Rückspiegel beobachtet: „This’ll do, take me to the venue.“ Owen: „I’m sorry, I’m booked for someone else.“ Madonna: „Yeah, right. Just take me to the venue.“ Owen: „What venue?“ Madonna ist aufgebracht: „I’m gracing this armpit of a town for one night. If you also think I’m gonna know the name of the venue in El Armpitto, you are sadly mistaken. You are the driver, you are supposed to know.“ Die Beifahrertür öffnet sich und ein Bodyguard schaut zur Tür herein: „We are going to the Palace.“ Madonna: „We? Listen, my bone-from-the-neck-up driver friend. I suggest you put your foot down and next time do your homework.“ Owen: „Okay. Fine.“ Der Bodyguard will einsteigen, aber Madonna hat etwas dagegen. „What do you think you’re doing?“ Bodyguard: „I’m coming with you, Ma’am.“ Madonna: „Then get on the roof and hold on tight. Out! Out!“ Bodyguard: „I follow behind.“ Madonna: „Good idea, tough guy.“ Madonna zu Owen: „What are you waiting for? Let’s get out of here before he gets in the car. I don‘t want him following me.“ Owen startet den Wagen und sagt resigniert: „Okay.“ Der Bodyguard steigt in den SUV dahinter zu einem Kollegen und sagt an: „Don‘t lose them!“ Das Haupttor der Tiefgarage öffnet sich und der BMW mit Madonna und Owen fährt aus der Garage. Dann folgt der SUV. Draußen warten schreiende Fans und Presse. Madonna duckt sich weg und versteckt sich kurz. Der BMW kann gerade noch rausfahren, aber die Fans werfen sich auf den SUV und blockieren die Durchfahrt. Madonna setzt sich wieder aufrecht und dreht sich nochmal nach den Fans um. Der BMW steckt im Verkehr fest. Sie: „Why are we going so slow?“ Owen übertrieben freundlich: „Excuse me?“ Madonna: „Are you deaf as well as stupid? I said: Why are we going so slow? People are waiting for me.“ Owen: „Well, Ma’am, I wouldn’t like to put you in any danger.“ Madonna: „Don‘t ma‘am me, smarty pants.“ Jetzt hat sich der SUV aus der Umklammerung der Fans gelöst und biegt in die Straße ein. Madonna: „Shame your driving isn’t as smart as your mouth. I thought I told you, I don’t want that car following me. Huh?“ Owen schweigt. Madonna: „That’s the smartest answer right there, smarty pants.“ Das Handy von Owen klingelt. „Would you excuse me for a second?“ Er geht ran und Manager Glen ist dran. „Hello!“ Glen: „Is she doing okay?“ Owen: „Yeah, she is fine. I’ll take care of her.“ Glen: „No rush. Show her the sights. Give her everything I pay you for. Breakfast, lunch and dinner!“ Owen: „She’ll be there on time.“ Owen legt auf und steckt das Handy wieder weg. Er schaut immer wieder im Rückspiegel nach Madonna und checkt die Lage. Madonna hat ein kleines Schminkset herausgeholt und betrachtet sich im Spiegel: „If you’d keep your eyes on the road instead of on me we might be getting somewhere.“ Owen: „Let me see what I can do … Sir.“ Madonna zieht sich die Lippen nach. Die Ampel steht auf Rot. Song 2 von Blur setzt ein. Owen legt den ersten Gang ein, der Auspuff heult auf, die Ampel schaltet auf Grün und er gibt Vollgas. Mit quietschenden Reifen fährt der BMW los. Madonna kippt nach hinten und wird jetzt auf dem Rücksitz in jeder Kurve von rechts nach links geschleudert. Owen hat richtig Spaß. Er überholt Autos. „Just hold on tight, Sir.“ Madonna purzelt von einer Seite zur anderen. Owen nimmt das Auto richtig ran und driftet um jede Kurve. Madonna wirbelt durch die Luft. „We are getting there safely.“ Jetzt fährt er in einen Hanger und macht eine 360-Grad-Drehung. Er parkt rückwärts ein und wartet gespannt. „Looks like we‘ve lost them, Sir.“ Die Hand Madonnas tastet sich aus dem Fußraum des Beifahrersitzes nach oben. Der SUV mit den Bodyguards fährt suchend an ihnen vorbei. Owen blickt zu ihr rüber: „Let‘s try again.“ Er legt den ersten Gang ein und rast wieder los. Er steuert den BMW neben den SUV. Der Bodyguard auf dem Beifahrersitz ist überrascht. Owen wirft ihm ein Augenzwinkern und einen Kussmund zu. Er zieht an dem SUV vorbei. Madonna sitzt jetzt wieder auf der Rückbank und ihre Hand greift in Owens Gesicht. Er hängt die Bodyguards ab und fährt sehr schnell auf einen Autobahnzubringer. Plötzlich hebt das Auto zu einem großen Sprung ab. Sie fliegen in Zeitlupe. Wagners Walkürenritt blendet ein. Owen ist selbst ein wenig über den weiten Flug überrascht, aber das Auto landet sicher auf der Straße. Jetzt wird alles noch wilder. Die Reifen quietschen, er rast um die Kurven, Vollgas über Kreuzungen und lässt das Steuer los. Madonna wird auf dem Rücksitz einmal komplett durchgeschüttelt. Der BMW wird langsamer. Owen: „Well, we got you here and in good time, too.“ Er reißt die Handbremse hoch und der Wagen schleudert in einer gekonnten Drehung und mit einer Punktlandung vor den Palace. Dabei öffnet er die hintere Tür und Madonna fliegt in hohem Bogen aus dem Wagen auf den roten Teppich, vor die Füße der Presse. Madonna liegt wie ein Häufchen Elend auf dem roten Teppich. Sie kauert auf dem Rücken. Die Beine angezogen wie ein Baby. Mit verschmierter Schminke und völlig durch den Wind schutzlos den erschrockenen Journalisten ausgeliefert. Ihre Hose ist im Schritt voller Kaffee und schon prasselt das Blitzlichtgewitter auf sie nieder. (BMW, Star, 2001)
 
Der Film lebt von seiner prominenten Besetzung. In fast jedem Moment überlegt man, ob sich die Diva so in Wirklichkeit verhält. Das Konzept, mit weltbekannten Regisseuren und Stars Action-Werbefilme zu produzieren, ging auf. Die Filmreihe wurde aufgrund ihres großen Erfolgs 2016 mit dem Film The Escape wieder aufgenommen. 
Die gleiche Kampagnen- und Kurzfilmstrategie bespielte Pirelli in den Jahren 2006 bis 2010. Mit Darstellern wie John Malkovich, Naomi Campbell und Uma Thurman. Alle zwei Jahre ein neuer Blockbuster, der zum Zugpferd und Zünder der jeweiligen crossmedialen Kampagne in Print und Online wurde. 
 
Der Krieg der Virals
 
Wir beamen uns zurück in die Zukunft. Der nächste Viral ist eine Parodie auf Star Wars und das virale Marketing im Speziellen aus dem Jahr 2007. Er entstand zu einer Zeit, als Jugendliche sich den Spaß machten, Star-Wars-Episoden mit neuen und möglichst blöden Dialogen zu synchronisieren und diese ins Internet zu stellen.
 
Ein Raumschiff fliegt auf den Todesstern zu. Im Todesstern selbst haben sich die Offiziere im War Room versammelt und besprechen im schwäbischen Dialekt die Lage. Zwei Offiziere führen ein Streitgespräch. Offizier 1: „Mir brauchet gar net groß drumrum schwätze, wenn mir marketingmäßig net demnächscht was unternemme, dann is unser Leadership-Position so schnell am Arsch, so schnell könne mir gar net gucke.“ Offizier 2: „Isch denk, Sie reagieren da a bissel über, lieber Kollege, unser Bränding is nach wie vor hervorragend.“ Offizier 1: „Isch sag, dass wir uns ohne eine vernünftige Print- oder TV-Kampagne so schnell net …“ General Tarkin betritt mit Darth Vader den Raum und unterbricht sie. „Von Print- oder TV-Kampagne kann hier überhaup gar keine Rede mehr sei. Wir leben ja nimmer im finschteren Mittelalter. Es haben sich heutzutage ganz neue Marketing-Inschtrumente aufgetan und des isch au der Grund, warum isch diese Sitzung einberufen hab. Dass mir des heut a mal durschsprechet.“ General Tarkin setzt sich und Darth Vader bleibt neben ihm stehen. Offizier 2: „Also bei allem Reschpekt, aber was sollet mir denn außer Print- oder TV anderes mache?“ General Tarkin: „Meine sehr verehrten Vorstandskollegen, wir werden im Marketing ab sofort brandneue Wege beschreiten. Virales Marketing heißt das große Zauberwort. Ein vollkommen neues Feld.“ Offizier 2: „Virales Marketing und was Neues? Jetzt mach i mir aber wirklich glei in die Hos. Des stoht doch heutzutag scho in der Bild-Zeitung. Des isch doch nix Bsonders mehr. Des macht doch wirklich jedes kleine Handwerkerle.“ Darth Vader: „De Unterschied isch bloß, dass mir mehr Kohle ham als des kleune Handwerkerle.“ Offizier 1: „Jedes Budget, des mer für so ein Hokuspokus ausgibt, isch doch zum Fenschter nausgeschmisse. I versteh iberhaupt gar net, dass ihr auf so was reifallet? Mit so einem Hängedreck da driggern Sie doch keine einzige Pörchase-Desission. Also i dät des Geld lieber schpare.“ General Tarkin ist beeindruckt. Darth Vader: „An Ihrer Stell dät isch mein fette Arsch net auf meine Lorbeere breithocke. Virales Marketing is a absolut machtvolles Werbeinschtrument, von dem Sie keu Ahnung ham.“ Offizier 2: „Des war ja klar, dass Sie wieder mit Ihrer Besserwisserei kommen, Herr Väder. Isch wirklich unfassbar, dass Sie glaubet, Sie könnten mit Ihrem schwarzen Werbeanzügle hier irgendjemand hinterm Ofe vorlocke. Fehlt bloss noch, dass Sie en schwarze Rollkragepulli anziehet, dann …“. Darth Vader tritt auf ihn zu und hebt nur kurz die Hand. Daraufhin stottert der Offizier und ist wie gelähmt. Alle schauen wie gebannt, was jetzt mit ihm passiert. Darth Vader fragt ihn provozierend: „Kanscht des grad bidde nochmol sage?“ General Tarkin greift ein und sagt: „Jetzt isch gnug. Herr Väder lasset sie den Mann in ruh.“ Darth Vader lässt von ihm ab und erwidert: „Wenns unbedingt sei muss.“ Der Offizier erholt sich wieder und fällt mit dem Kopf auf den Konferenztisch. General Tarkin zum Offizier: „Sie streitsüchtiger Grasdackel. Isch seh mir außerstande, dieser bescheuerten Streiterei hier noch weiter Raum einzuräume und deswegen treff jetzt eine alleinige Entscheidung. Unser gesamter Werbeetat geht ab sofort ins virale Marketing.“ (Dodokay, Virales Marketing, 2007)
 
Das Video erschien zu einer Zeit, als das virale Marketing in aller Munde war und jeder Auftraggeber erkannte, dass das Internet in der breiten Masse ankommen würde. Bevor es aber so weit kam, dass die Insider vom Buzz-Wort „Viral“ schon wieder genervt waren und sich darüber lustig machten, passierte Folgendes …
 
Die kreative Revolution
 
Das Werbespot-Einerlei der 1970er, 1980er und 1990er Jahre wurde von der kreativen Revolution der Virals und deren Wirkung überrollt. Ein Viral im Internet war das kreativste Projekt, an dem ein Kreativer arbeiten konnte. Zusammen mit den ersten Internet-Start-ups, die mit aller Macht nach Reichweite suchten, eine perfekte Mischung für Experimente. Die Gestaltung der Virals setzte sich über alle Konventionen und Regeln hinweg und überholte die TV- und Kinowerbung einfach. Texter, Art Directors, Regisseure und Produzenten wollten um jeden Preis produzieren, weil sich abseits der eingetretenen Trampelpfade Chancen für kreative Meisterleistungen boten. Also arbeiteten alle umsonst und der Kunde bekam einen Viral für wenig Geld. Das verschärfte Paradigma der Auftraggeber, „Ihr dürft noch einen verrückten Film fürs Internet machen, wir möchten das mal testen, aber kosten darf er nichts“, führte zu konzeptionellen Höhenflügen. Wenn es nichts kosten durfte, musste die große Idee zum Budget passen. 
Heute werden Virals genauso aufwändig in Kameraführung, Besetzung, Location, Ausstattung und Postproduktion produziert wie Werbespots und –filme auch. Der Produktionsaufwand (Production Value) steigt stetig. 
 
No Logo
 
Bei der Mehrzahl der gleich folgenden Virals wird deutlich, dass das Verkaufsobjekt, die Aufforderungen zum Kauf, das Branding oder Logo in den Hintergrund treten. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum klassischen Werbespot und -film. Vordergründige Werbung und Verkaufsrhetorik, wie sie im Fernseher läuft, macht den Empfehler des Virals unglaubwürdig und sollte daher gemieden werden. Virals sind Teaser, sie wecken Neugierde und verbreiten sich besser, wenn der Absender im Hintergrund bleibt. Häufig erfolgt die Auflösung des Auftraggebers auf einer Internetseite oder Landingpage. Erst diese lösen auf, um welche Marke es sich dreht. Oftmals werden Hashtags oder Landingpages als Zielpunkt gewählt.
 
Die Gestaltungsmerkmale erfolgreicher Virals
 
Was konkret macht den Viral mächtig? Virals setzen im Vergleich zu Werbespots und -filmen neue gestalterische Maßstäbe. Der bereits erwähnte Unterhaltungsfaktor, auch Advertainment genannt, die Kombination aus Advertising (Werbung) und Entertainment (Unterhaltung), ist für die Verbreitung und Empfehlung der Filme extrem wichtig. Die häufigsten Gestaltungsmerkmale sind: 
 
·       Hohe Authentizität 
·       Tabubrüche und Regelverletzungen
·       Absurditäten und Kuriositäten
·       Extreme Genres wie Thriller, Horror, Splatter
·       Humor, schwarzer Humor und Slapstick
·       Cute Content

Bleibt dran. Das war erst der Anfang der Viral-Video-Geschichte.