Bundestagswahl 2013: Jetzt hängen sie wieder. Wie Wahlplakate wirken. Eine semiologische Analyse. Von semiolytics, Heidelberg – Berlin, 28.08.2013
Jetzt hängen sie wieder. An Bäume und Laternenpfähle geknüpft oder auf überdimensionale Plakatwände tapeziert. Plötzlich bestimmen sie mit ihren Bildern und Botschaften den öffentlichen Raum.
Plakate müssen auffallen. Damit sie dann, möglichst auf einen Blick, vom Publikum verstanden werden. Das muss schnell gehen, denn wer parkt schon sein Auto, um sich näher mit einem Plakat zu beschäftigen? Deshalb beauftragen die Parteien professionelle Werbeagenturen damit, ihre Haltungen und Botschaften plakativ umzusetzen. Aufgabe der Agenturen ist die Produktion von Zeichen und deren Verknüpfung zu Geschichten und Metaphern, die schließlich die intendierten Botschaften kurz und prägnant übermitteln sollen.
Wie aber kommt die Kommunikation tatsächlich an? Wie wirken die Wahlplakate der Parteien? Hier setzt die Analyse von semiolytics an: Ein interdisziplinär besetztes Expertenteam untersucht systematisch die verwendeten visuellen und sprachlichen Codes und arbeitet alles heraus, was explizit und implizit, bewusst und unbewusst wahrgenommen werden kann. Zentrales Augenmerk gilt dabei gerade auch den „verborge-nen“ Konnotationen und „unterschwellig“ wirksamen Subtexten, durch die die intendierten Botschaften unterstützt oder auch konterkariert werden können.
So viel vorweg: Auf ihren Plakaten für den Wahlkampf 2013 lassen die Parteien das ein oder andere von ihrem Politik- und Menschenbild durchscheinen, das offensichtlich über die „eigentlichen“ Botschaften, d.h. über das von den Absendern Gemeinte hinausreicht.
CDU: Das Heile-Welt-Versprechen
Auf den Plakaten der Union sehen wir fröhliche, lachende Menschen, die auf den ersten Blick sorglos und zufrieden erscheinen. Nehmen wir zum Beispiel das Friede-Freude-Eierkuchen-Motiv: Vater und Tochter backen gemeinsam Pfannkuchen, Mutter kocht Filterkaffee. Die gewählte Familienaufstellung folgt den klassischen Rollenmustern: der patente Familienvater im Zentrum, die Ehefrau und Mutter etwas verhuscht im Hintergrund, das Mädchen wird am Herd spielerisch in die Hausfrauenrolle eingeübt. Ein Kleinfamilienidyll am Sonntagnachmittag – und 100% Klischee.
Der Satz „Jede Familie ist anders“ will Vielfalt, Individualität, Toleranz kommunizieren. Er steht insofern in deutlichem Widerspruch zum Bild, das durch seine Klischeehaftigkeit den darüber platzierten Text unmittelbar Lügen straft. Demzufolge ist auch der Nachsatz „Und uns besonders wichtig“ nicht wortwörtlich zu verstehen. Implizit ist in dem Widerspruch die Botschaft enthalten, dass der Union (durch das schwarz-rot-goldene Bändchen als staatstragende Partei ausgewiesen) das konservative Familien-modell und ein konventionelles Rollenverhalten „besonders wichtig“ sind. Verstärkt wird dies durch den massiven abgerundeten Balken in Orange über den Köpfen der Protagonisten: Orange steht nicht nur für eine etwas gewollte und billige Modernität, sondern es ist vor allem eine Farbe, die auf Gefahren hinweist. Dräuen hier möglicherweise Gefahren für die abgebildete Heile Welt? Lastet hier nicht ein massiver Konformitätsdruck auf dem Familienidyll?
Der aktuelle CDU-Claim „Gemeinsam erfolgreich“ ist – für sich genommen – sehr werblich und abgenutzt: Es könnte sich auch um den Slogan eines Finanzdienstleisters oder einer PR-Beratung handeln. In der Kombination von Foto und Text wird er zu einer un-terschwelligen Drohung: Gemeinsam erfolgreich? Ja, aber nur, wenn Du, deutsche Mittelstandsfamilie, den Rollen- und Konformitätserwartungen, die Deine Regierung in Dich setzt, auch entsprichst! So werden real existierenden Sorgen und insbesondere die Ab-stiegsängste der Bürgerlichen Mitte, also der Kernzielgruppe der Kampagne, hinter der Oberfläche des Motivs verklausuliert aufgegriffen und angesprochen.
Ein anderes Beispiel: Ein Paar auf dem Motorrad, er vorne am Lenker, sie auf dem Sozius. Gegen den Balken über ihren Köpfen scheinen sie erst einmal durch ihre Helme geschützt. Das Lächeln der Protagonisten ist zaghaft, unsicher; sie fahren vorsichtig, eher auf Sicht denn ins Weite blickend. Wieder scheinen Text und Bild nicht ganz zueinander passen zu wollen. Das Paar sieht auch nicht aus wie die Bürger, die von einer wachsenden Wirtschaft wirklich profitieren würden. So erschließt sich: Der Satz „Wachstum braucht Weitblick“ ist wohl weniger auf die beiden im Bild, sondern auf die CDU und ihre Regierung gemünzt. Das Logo gleich unterhalb des Balkens bestätigt das. Die implizite, an eine verunsicherte Mittelschicht gerichtete Botschaft lautet also: Habt keine Angst, wir regeln das für Euch. Und der über den beiden schwebende Balken in Orange thematisiert diesmal Ängste vor möglichen Einbrüchen bei Wirtschaftswachstum und Währungsstabilität. Dennoch: Die abgebildeten Helme wirken nicht so, als könnten sie bei einem ernsthaften Crash wirklich schützen.
In diesen wie in anderen Kampagnenmotiven wird das Ausgeliefert-Sein eines sorglos im Hier und Jetzt agierenden, aber schutz- und geborgenheitsbedürftigen Mainstreams an eine sich kümmernde und beschützende Partei bzw. Regierung illustriert. Der Slogan „Gemeinsam erfolgreich“ versucht dabei den Schulterschluss mit den Bürgern und Wählern. Der Erfolgsbegriff ist hier eindeutig ökonomisch konnotiert – obwohl gerade in der Mitte der Gesellschaft „Erfolg“ inzwischen mehr und mehr mit einer Sehnsucht nach Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen verbunden ist. Letztlich schließt der Slogan also an Merkels Vorstellungen von einer „marktkonformen Demokratie“ an, die gegenüber anders gerichteten Wünschen immun – oder eben „alternativlos“ ist.
Ein aufschlussreiches Detail: Während die Zwänge der Bürger als mächtige Balken von oben kommend dargestellt werden (und in allen Motiven bereits auf den Köpfen der Protagonisten „aufliegen“), sind Balken und Partei-Logo in den Merkel- und Kandidaten-Motiven unten, also stärkend und schützend positioniert.
SPD: Das Wir und wir
Während die CDU mit Heile-Welt-Klischees arbeitet und dabei auch nicht vor ein wenig Kitsch zurückschreckt, setzen die Sozialdemokraten auf Realismus. Wir sehen echte Menschen in ihrem natürlichen Habitat: das Rentnerehepaar vor einem Plattenbau, das Hausmeisterpaar im Schul- oder Behördenflur, die Alleinerziehende vor der sanierungsbedürftigen Kita. Immer wenn echte Menschen inszeniert werden, besteht die Gefahr der Überzeichnung. Das an sich Echte und Authentische kann dann auch gestellt und verkrampft wirken.
So trägt der Hausmeister alle Insignien einfacher Tätigkeiten. Ein Hausmeister, der einen Hausmeister darstellt. Breitbeinig und irgendwie unantastbar auf seinen Besen gestützt, verkörpert er den Alltagsmythos des „pedantischen Pedells“. Und das Rentnerehepaar kommt besonders bieder und spießig daher; hier wird – im Zusammenhang mit dem abgebildeten Mehrfamilienhaus – der Mythos von den „nervigen Nachbarn“, den Spaß- und Spielverderbern evoziert. Alles keine Figuren, die Empathie ermöglichen und Identifikationspotential haben …
Die Protagonisten sind mit einem großen Quadrat in Rotviolett/Purpur konfrontiert. Das ist die Farbe der Bischöfe und spätrömischen Kaiser. Sie symbolisiert Ernst, Vornehmheit und Macht. Das Quadrat wird von kurzen Slogans ausgefüllt: „Wir für den gesetzlichen Mindestlohn“, „Wir für ein Alter ohne Armut“, „Wir für mehr Kitaplätze“. Das WIR erscheint dabei überdimensioniert groß und dominant. Es wird ein wenig abgemildert durch die typografische Feinheit, die das WIR durchlässig gestaltet und damit im Raum verankert. In jedem Fall aber wirkt das purpurne Quadrat mit dem riesigen WIR mächtig und pompös und bildet einen deutlichen Kontrast zu den abgebildeten, eher blassen Menschen in ihrem Alltag. Das Gestaltungsprinzip drückt damit eine Kluft aus: hier (links) die Partei, dort (rechts) die Wähler. Die Partei – oder das WIR – nimmt den Menschen den Platz; die Menschen erscheinen durch die Bildregie wie zur Seite gedrängt.
Ohnehin bleibt am SPD-Slogan „Das WIR entscheidet“ das Denken hängen: „DAS Wir“ ist eine ungewöhnliche sprachliche Konstruktion; ein Neutrum, das sich nicht mehr auf uns Menschen bezieht, sondern auf ein entpersönlichtes, gesichtsloses Abstraktum. Im Verbund mit dem massiven Quadrat in den Farben altertümlicher Würdenträger scheint eine Bedeutung durch, die besagt: Ihr, die Menschen seid nichts, das abstrakte Kollektiv ist alles; und was für das Kollektiv gut ist, das entscheiden WIR, die Parteibürokratie oder die Staatsräson.
Auf dem rechten oberen Rand des Purpur-Quadrats balanciert das traditionelle rote SPD-Logo. Durch diese Symbolik wird das mächtige, selbstbewusste Wir-Abstraktum noch weiter vom Markenkern der SPD, dem Versprechen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität wegbewegt: Die alte Identität der Sozialdemokraten ist dabei – die Bildsprache ist hier eindeutig – herunterzufallen, zu kippen.
Neben der Themenkampagne startete die SPD auch einen Direktangriff auf die Kanzlerin und ihre Regierung. Die Wirksamkeit von negative campaigning ist seit jeher umstritten. Politische Schlammschlachten kommen jedenfalls bei deutschen Wählerinnen und Wählern selten gut an. Insbesondere der persönliche Affront wird abgelehnt. Ausnahme: die Schläge sind intelligente Punktlandungen und kommen mit einem gegebenenfalls sogar selbstironischen Augenzwinkern daher. Das aktuelle Merkel-Bashing der SPD ist sicher keine Sternstunde des negative campaigning. Vor allem wird gegen ein ehernes Gesetz der politischen Kommunikation verstoßen: Verwende niemals Begriffe oder Argumente des Gegners. Selbst wenn Du sie verneinst oder dagegen argumentierst, hast Du sie zitiert und ihnen ohne Not ein Podium geboten.
Dem Satz „Beste Regierung seit der Einheit“ ist zwar ein fragiles Fragezeichen angefügt. Aber das ist so dezent, dass es kaum auffällt und Merkels anscheinend vermessene Behauptung in keiner Weise konterkarieren kann. Gleichzeitig wird eine Sub-Botschaft transportiert: Die Merkel-Politik mag zwar nicht optimal sein, aber sie ist die derzeit einzig machbare und somit „alternativlos“. Und insofern wird hier bereits vorab um Verständnis geworben für den Fall, dass die SPD am Ende doch ihrem Anspruch, regieren zu wollen, folgt (ganz nach Münteferings Motto „Opposition ist Mist“) und sich erneut in eine Koalition mit der Union begibt.
Grüne: Mit dem Wähler auf DU
Auch die Grünen haben sich an negative campaigning versucht. Die Schnappschüsse von der Kanzlerin und einigen ihrer Regierungsmitglieder sind in tristen Grau-Tönen gehalten. Merkel und ihr Gefolge wirken wie kraftlose, verzagte Auslaufmodelle. Die Headlines erfüllen (zielgruppengerecht) Satireansprüche, zum Beispiel, wenn ein Blick auf das müde Spitzenpersonal auf der Regierungsbank mit „Gegen Laufzeit-Verlängerung“ betitelt wird. Und dem Ganzen wird dann noch deutlich sichtbar der run-de grüne Stempel aufgedrückt.
Auffällig dabei: Die Sonnenblume, das Markenzeichen der Grünen – und gleichzeitig der Alternativbewegung – ist einem recht radikalen Relaunch unterzogen worden, die frühere Farbigkeit ist verschwunden, übrig geblieben ist Grün. Ein Zeichen, dass man sich von der sozio-historischen Herkunft entfernt hat? Ein Hinweis, dass man endgültig staatstragend geworden ist? Und die gesamte Farbkomposition dieser Abwahlkampagne: schwarz und grün – wirklich nur ein Schuft, der hier an koalitionspolitische Farbenspiele denkt?
Auch die Themenkampagne der Grünen fällt auf. Das liegt an den abgebildeten Typen – vom vorwitzigen Knaben über die freche Göre bis zur skurrilen Oma – und an der Art der Portraitfotografie. Die Köpfe sind leicht verzerrt und „aufgeblasen“, wirken teils bildsprengend, was die Zuwendung zum Betrachter verstärkt. Wir sehen nur Individuen/Individualisten. Das Personal reicht von Jung bis Alt. Eine Lücke klafft bei den 35- bis 55-Jährigen – eigentlich eine wichtige Grünen-Zielgruppe.
Ausnahmsweise kein menschliches Gesicht ziert das Plakat zum Thema Ernährung / Massentierhaltung. Als principal attractor wirkt hier zunächst die eklig-faszinierende rosa Kuh-Zunge. In einer packend dramatischen Inszenierung sind eine ganze Reihe von thematisch relevanten Codes kombiniert: Sie verweisen auf die Wildheit und Eigenständigkeit der Natur (die, wie wir inzwischen wissen, auch böse zurückschlagen kann), auf Lebenslust und geradezu animalischen Genuss (ausgerechnet die Grünen haben uns schließlich lange genug mit Verzichtsforderungen gequält), auf die Schönheit der heimischen Landschaft, auf sommerliche Wärme, Freiheits- und Geborgenheitsgefühle und nicht zuletzt natürlich auf eine verantwortliche Umwelt- und Verbraucherpolitik. Für all dies steht der Absender, die Partei der Grünen, programmatisch ein. Die Headline variiert dabei augenzwinkernd die alte Volksweisheit „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“.
Auch in den anderen Motiven funktionieren die Headlines auf der Basis von Anspielungen und gedanklichen Bezügen. Das stellt gewisse Anforderungen an den Betrachter. Wer zum Beispiel die „Hello Kitty“-Welt oder „Deine Mudda“-Witze nicht kennt, wird erst einmal Verständnisprobleme haben. Andererseits gelingt es dadurch, den Motiven jeden Hauch von Anbiederung zu nehmen.
Die kurzen und knappen Headlines und thematischen Signale sind mit dem neuen Claim „Und Du?“ verbunden, der in einen runden grünen Meinungs-Button montiert ist. Eine solche direkte Ansprache des Betrachters ist ungewöhnlich. Statt eines parteipolitischen Statements wird hier zum eigenen Nachdenken und zur Stellungnahme aufgefordert. Das ist ein Dialogangebot auf Augenhöhe. Dazu passt, dass sich die Partei zurück nimmt: das Logo von Bündnis 90/Die Grünen wurde recht gründlich überarbeitet, es bleibt eine minimalistische Bildmarke. Trotzdem hat die Erkennbarkeit, schon wegen des kräftigen Grüns, nicht gelitten.
FDP: Staatstragende Nüchternheit
Die Freien Demokraten verzichten (ebenso wie die Link) bei ihren Themenplakaten auf Bilder. Das ist vordergründig eine Absage an die bunte Werbewelt. Nichts soll von den Inhalten ablenken; man gibt sich sachlich und seriös. Die dominierende Farbe der FDP-Plakate ist Gelb wie Genschers Pullunder. Die Hintergrund Farbe ist ein beruhigendes Blau, das Vertrauen und Seriosität ausstrahlt. Die Headlines verlaufen leicht schräg nach oben, ebenso ein blauer Keil, der die Plakate nach unten abschließt. Beides kommuniziert verhaltenen Optimismus und symbolisiert einen positiven Aufwärtstrend. Während die Plakate nach oben und rechts offen sind, wird nach unten und links eine klare Kante gezeigt. Zudem sind die gelben Flächen leicht marmoriert, was – im Gegensatz zu den scheinbar harten Forderungen – der Gesamtaussage einen etwas weicheren, wolkigen Charakter verleiht.
Das FDP-Logo ist rechts oben platziert und kommt dadurch recht geschäftsmäßig, wie bei einem offiziellen Briefkopf daher. Das wirkt seriös, amtlich sozusagen. Die Headlines kommen mit wenigen Worten aus und sind damit im wahrsten Sinne des Wortes plakativ. Sie werden mit einem dicken Punkt abgeschlossen. Das wirkt autoritativ, selbstbewusst, das ist Basta-Stil. Nur inhaltlich bleiben sie enorm vage. Was bedeutet konkret „Die Mitte entlasten“, „Schluss mit Schulden“ oder „Bürgerrechte stärken“? Da werden lediglich Schlüsselbegriffe angetriggert, von denen man sich Wirkung beim Betrachter erwartet.
Der Kampagnen-Claim „Nur mit uns“ erscheint gegenüber den unspezifisch formulierten, weichen Themen apodiktisch und hart. Er sagt: Wir sind unverzichtbar, auch ohne konkrete Inhalte. Das wirkt wie ein Betteln um Zweitstimmen und erinnert an das Image der FDP als Mehrheitsbeschaffer. Mit diesem Slogan tut die Partei kund, dass sie um jeden Preis mitregieren will. „Nur mit uns“ bedeutet vordergründig, dass es eine vernünftige Politik nur unter Beteiligung der FDP geben kann; im Hinterkopf weiß jeder aufgeklärte Beobachter der politischen Szene, dass hier kommuniziert wird: Eine handlungs-fähige Regierung kommt nur zustande, wenn auf das Eigeninteresse der FDP und die Belange ihrer Klientel Rücksicht genommen wird.
Die Linke: Protest Schwarz auf Weiß
Schwarze Lettern auf weißem Grund und das rote Rechteck des Partei-Logos: auf den ersten Blick könnte man an einen BILD-Aufmacher denken. Aber dann fällt auf, dass die Texte zentriert gesetzt sind: Das ist die klassische Gestaltung von Protestplakaten, wie sie beispielsweise bei Gewerkschaftsdemonstrationen an einer Stange hochgehalten werden. Diese Assoziationen werden verstärkt durch die Wortmarke DIE LINKE, welche als Ikon für einen kleinen Protestmarsch (Menschen mit Fahne) gedeutet werden kann. Man wird damit auf soziale Bewegungen und außerparlamentarische Aktionen verwiesen. Es wird der Alltagsmythos des Underdog evoziert, der agitiert und für seine Rechte streitet.
Die Forderungen auf den Plakaten wirken im Unterschied zum visuellen Auftritt vergleichsweise zahm. Die Headlines „Miete und Energie: Bezahlbar für alle“ oder „Respekt: Mindest-Sicherung statt Hartz IV“ klingen harmlos. Lediglich „Genug gelabert! 10 Euro Mindestlohn jetzt“ wird dem Protest-Habitus gerecht. Gerade, weil auf Bilder verzichtet wird, muss das Drama von den Texten kommen. Aber die Headlines reproduzieren eher das Wahlprogramm und begnügen sich mit Schlagworten.
Beim querformatigen zusammenfassenden Plakat „Revolution? Nein, einfach zeitgemäß“ zeigt die Partei, dass sie Kreide gefressen hat. Die Verwendung des Begriffs Revolution provoziert zunächst. Er wird jedoch sofort durch das angefügte Fragezeichen seiner Brisanz beraubt. Die Linke stellt sich als harmlos und damit regierungsfähig dar. Und das Wörtchen „zeitgemäß“ soll jeden Anachronismusvorwurf im Keim ersticken.
Piratenpartei: Chaos und wohlformulierte Programmatik
Die erste Anmutung: voll, unübersichtlich, Schnipsel und Bausteine, wie auf einer Collage, wie in einer Schüler- oder Szene-Zeitung. Viele Striche und Texte kreuz und quer, wichtige Themen, flapsige Sprüche und viele Füllwörter („das wird man ja doch wohl mal sagen dürfen“). Dazu ein verschmitztes Gesicht, ein selbstbewusst offener Blick, ein graues, verwaschenes T-Shirt. Andere Motive haben ein ähnliches Muster.
Die Piraten-Kampagne folgt einer klaren Syntax: Zunächst wird eine provokative, ungewöhnliche Forderung in den Raum gestellt: Wir Piraten setzen andere Prioritäten. Dann, durch die portraitierten Personen und ihre Mimik erfolgt eine ironische Brechung: Ist ja nur ein Versuch, so ganz sicher sind wir uns auch nicht.
Anschließend folgt ein überraschender Kontrapunkt: Ein kompliziert ausformuliertes Zitat aus dem Parteiprogramm. Die Botschaft ist hier: Doch, doch, wir haben das sehr wohl durchdacht und in einem mühevollen Prozess ausdiskutiert und ausformuliert. Die ironische Brechung bekommt einen anderen Stellenwert und eine weitere Botschaft wird vermittelt: Wir sind uns nicht unsicher, wir wissen, warum wir wofür stehen, aber wir sind jederzeit zu Selbstkritik und Selbstreflexion bereit. Und Kritik an unseren Positionen nehmen wir gelassen entgegen.
Mit ihrer Kampagne schaffen es die Piraten, den gängigen Vorwurf ihnen gegenüber, der gleichzeitig ihr Markenkern ist, nämlich ihre Positionen seien noch unfertig und ständig im Werden, sowohl (durch die Gestaltung) zu bestätigen als auch (durch Zitate aus dem Parteiprogramm) zu widerlegen, dabei voraussehbare Angriffe gelassen (sozusagen mit offenem Visier) auszuhalten und letztlich selbstbewusst (bildhaft: wie durch ein Megaphon) zu rufen: Wählt uns! Das Konzept der Anti-Fragilität, das sich in soziokulturellen Studien als eine zentrale Kompetenz zur Bewältigung der Zukunftsprobleme herauskristallisiert hat, kommt in dieser Kampagne in idealtypischer Form zum Ausdruck.
Zum Schluss: Das plakative Kanzlerduell
Kanzlerin Angela Merkel und ihr Herausforderer treten nicht nur einmalig beim TV-Duell gegeneinander an, sondern massenhaft auf den öffentlichen Straßen und Plätzen. Bei diesen sogenannten Schlussplakaten geht es darum, die Kandidaten „als Menschen“ darzustellen, darum, Sympathien zu wecken oder zu verstärken.
Auf dem Schlussplakat der CDU sieht man die Kanzlerin in Aktion. Sie steht im Mittelpunkt, ist ganz die energische Führungskraft. Die Situation ist unklar, aber in jedem Fall eine typische Situation aus dem Alltag einer Kanzlerin – vielleicht ein Staatsbesuch, vielleicht ein Gipfel.
Es dominieren verschiedene Blau- und Grau-Schattierungen, die Professionalität, Seriosität und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen. Merkels Körperhaltung und Mimik wirken spontan: Sie wendet den Kopf über die rechte Schulter nach hinten und erscheint dabei etwas überrascht. Die Augen (das Werkzeug der Erkenntnis) blicken kritisch, abschätzend und analysierend. Der Mund (das Werkzeug der Anweisungen und Befehle) ist gleichzeitig Merkel-typisch angespannt, aber auch ein klein wenig amüsiert.
Durch diese Haltung drückt sie aus, dass sie souverän Herrin der Situation ist. Obwohl der Betrachter, d.h. wir, die Wähler, nicht genau wissen, wie die Lage wirklich ist, können wir uns gut regiert fühlen: In dem Bild signalisieren der Habitus der Kanzlerin im Mittelpunkt, das blau-graue Halbrund im Hintergrund und die breite Schulter (des Bodyguard?) im Vordergrund absolute Sicherheit, zusätzlich verstärkt noch durch das große „Schutzschild“ in Orange, das ein starkes Deutschland auch in Zukunft verheißt. Die Gesamtkomposition zeigt eine Kanzlerin, die sich einerseits also in einer geschützten und geborgenen Situation befindet und mit ihr Deutschland, das sie ja repräsentiert. Gleichzeitig jedoch wird klar, dass sie zu energischem Handeln entschlossen ist: Lieb‘ Vaterland, magst ruhig sein.
Ganz anders funktioniert das Schlussplakat der SPD: Ein Plakat mit Aufforderungscharakter im wahrsten Sinne des Wortes. Herausforderer Peer Steinbrück schaut den Wählern direkt ins Gesicht. Und nicht nur das, er deutet auch mit dem gestreckten Zeigefinger, der fast aus dem Blick zu ragen scheint, auf sein Publikum. Hier ist eine historisch bekannte Geste nachgestellt. Der Uncle Sam-Mythos geht zurück auf die Rekrutierungsplakate der U.S. Army im Ersten Weltkrieg, auf denen der Staat in Gestalt von Uncle Sam mit den Worten „I Want You“ für den Militärdienst warb. So ist auch hier die unverblümte Botschaft: Bringe ein Opfer für das größere Ganze, gib Deine Stimme für die SPD ab – und lasse in Zukunft das abstrakte WIR alles Weitere entscheiden. Gib uns Deine Stimme, auch wenn wir Dir nichts Konkretes versprechen können.
Zwar wirkt der Kandidat energisch und kraftvoll; er kämpft mit offenem Visier und will es auf den letzten Metern reißen. Seine stahlblauen Augen und das schiefe Lächeln geben ihm etwas Kämpferisches. Aber er ist auch alleine und isoliert. Und er steht – wenn man die Bildsprache wörtlich nimmt – „mit dem Rücken zur Wand“. Die aktuelle Situation von Partei und Kandidat kommt hier ganz sinnbildlich zum Ausdruck. Die abschließende Botschaft, die übrig bleibt: Wenn die eigene Kraft nicht ausreicht, legt man sein Schicksal in die Hände des Wahlvolks – und dieses ist dann auch am Wahlabend selbst schuld daran, was es angerichtet hat.
Was alles nicht kommuniziert wird
Zur systematischen Analyse von Kommunikation, wie sie semiolytics durchführt, gehört auch, dass man danach fragt, welche an sich brisanten Themen in der jeweiligen Kommunikationsstrategie ausgeblendet werden. Bei den Wahlkampagnen 2013 fällt auf, dass Außenpolitik und Ökologie fast vollständig fehlen. Seit der von der schwarz-gelben Regierung angestoßenen Energiewende scheinen ökologische Themen – als soziale Norm schon lange in der Mitte der Gesellschaft verankert – keine Distinktionsgewinne mehr zu versprechen. Und die Energiewende selbst erscheint als komplexe Aufgabe, die schwer vermittelbar ist. In der Außenpolitik, die vor nicht allzu langer Zeit die Gesellschaft in zwei Lager spalten konnte, scheint bei den Parteien der große Konsens zu herrschen, dass man da – durchaus im wortwörtlichen Sinne – auf vermintes Gelände geraten könne.
Lauer Wahlkampf – zahme Plakate
Jeder Wahlkampf hat die Plakate, die er verdient. Fraglos regt die Entideologisierung der Parteien und die fehlenden Reibungs- und Angriffsflächen nicht unbedingt zu strategischen und kreativen Höhenflügen an. Aufschlussreich ist, was in den Bilderwelten zum Ausdruck kommt, die die Parteien bzw. ihre Agenturen für ihre Plakate ausgewählt haben. Denn da wird neben dem jeweiligen Selbstbild der Partei auch das vertretene Menschenbild deutlich.
Die beiden großen Volksparteien stellen den Normalbürger ins Zentrum, niemals alleine, sondern immer in sozialen Kontexten: bei der Union dominieren Freizeitsituationen, bei den Sozialdemokraten wird auch ein Blick auf die Arbeitswelt geworfen. Die CDU macht deutliche Anleihen bei der Werbewelt (Rama-Familie) und inszeniert ihre Klientel im Kokon einer heilen Welt, die es unbedingt zu bewahren gilt. Probleme werden erst gar nicht thematisiert bzw. schön geredet. Die Partei beschwichtigt, erklärt sich für Schutz und Geborgenheit der Bürger zuständig. Die SPD setzt dagegen auf Realismus und zeigt echte Menschen, deren Leben eben nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen beinhaltet. Die Protagonisten erscheinen jedoch als abhängige Objekte der Politik, denen das starke Partei-Kollektiv Beistand und eine Linderung der Probleme – oder auch etwas ganz anderes, nämlich Politik nach den Erfordernissen der Märkte und der Staatsräson – verspricht. Die Grünen zeigen ausschließlich einzelne Menschen, die keine Normalos, sondern echte, teils sogar schräge Typen sind. Gleichzeitig wird mit der herausfordernden Frage „Und Du“ der Bürgerin und dem Bürger nicht nur das Du, sondern auch Dialog und Partizipation angeboten. Damit holen die Grünen die Menschen ins politische Boot, allerdings ohne einen matriarchalischen (Merkel-CDU) oder patriarchalisch-bürokratischen Duktus (SPD) bemühen zu müssen.
Fazit
Die CDU kommuniziert das, was man gemeinhin von ihr erwartet: Eine konservative Politikstrategie, die sich am Machbaren im Interesse „der Märkte“ orientiert und von der Bevölkerung entsprechende Anpassungsleistungen erwartet. Die SPD laboriert an dem Dilemma, einerseits im Sinne der Staatsräson handeln zu wollen und andererseits für die Sorgen und Nöte der Unterprivilegierten zu sein. Die FDP zeigt harte Kante im Willen, das egozentrierte Parteiinteresse und die Ziele ihrer besonderen Klientel entschlossen zu vertreten. Die Grünen geben sich aufgeschlossen und sensibel für die Probleme der Zeit und stehen, bei allem taktischen Opportunismus, für ein partizipatives Politikmodell. Die Linke ist ganz und gar einer inzwischen zahnlos gewordenen gewerkschaftlich und ostdeutsch geprägten Protestkultur verhaftet. Und die Piraten bemühen sich angestrengt, Seriosität zu demonstrieren und dabei ihren frischen, von Ergebnisoffenheit und Adaptionsfähigkeit motivierten Elan nicht zu verlieren.
(Thomas Wind, Michael Schipperges, Albert Heiser)
Semiolytics ist ein Instrument zur Expertenevaluation von Kommunikationsmitteln.
Semiolytics verbindet die Erkenntnisse der Kognitionspsychologie mit der semiotischen Methodik und den Befunden der Werbewirkungs-, Milieu- und Zielgruppenforschung.
• Semiolytics ist ein Gemeinschaftsprojekt von
Dr. Thomas Wind, IfZ Institut für Zielgruppenkommunikation, Heidelberg,
Kommunikationswissenschaftler und Werbewirkungsforscher
Michael Schipperges, sociodimensions, Institute for Socio-cultural Research,
Heidelberg, Milieu- und Trendforscher
Dr. Albert Heiser, Creative Game Institut, Berlin, Kreativ-Direktor
• Weitere Informationen: www.semiolytics.com, Dr. Thomas Wind: 06221 – 43 41 480