Storytelling und Dramaturgie der kurzen Erzählung im Werbetext

16. Mai 2020

Im Folgenden werden dramaturgische Strukturen für das Storytelling im Fließtext vorgestellt. Das Drama beginnt. Die folgenden Zeilen verdeutlichen die dramaturgischen Abfolgen kurzer Geschichten und die Konstruktion von Erzählstrukturen. Nur wer die Dramenstruktur und deren Bedeutung für die kurze Story kennt, kann seine Fließtexte dramaturgisch ordnen. Außerdem können Sie bewusst mit den Teilen experimentieren und sinnvolle Umstellungen oder Kürzungen vornehmen.

Beispielhafter Aufbau einer Kurgeschichte für Werbetexte

a. Der Prolog (Vorgeschichte der Story) 

b. Die Exposition (Etablierung von Raum, Zeit, Ort und Rollen)

c. Das auslösende Ereignis (Konflikt tritt auf, Anstoß der Veränderung) 

d. Das Ziel und die Zielentwicklung (In welche Richtung verändert das Ereignis?)

e. Der Konflikt und die Komplikationen (Was steht dem Ziel entgegen?) 

f. Der Höhepunkt (Spannungshöhepunkt)

g. Der Wendepunkt, überraschende Wendung (Entwicklung nimmt neuen Verlauf) 

h. Die Auflösung des auslösenden Ereignisses (Tilgung des Konflikts)

i. Die Endsituation (Versprechen/Botschaft, Coda, Moral)

j. Der Epilog (Auswirkungen der Veränderung, Geschichte geht weiter)

a. Der Prolog 

Hier wird die Geschichte vor der Geschichte präsentiert und in einen besonderen Kontext gestellt. Der folgende Text ist der Prolog einer Anzeige für die Tankstelle Jet. Abbildung: Ein großer Tropfen Benzin. Headline und auslösendes Ereignis: „Als Einzige verkaufen wir Markenkraftstoff günstiger. Sind wir eigentlich bescheuert?“ Prolog: „Können wir nicht rechnen? Möchten wir für das Bundesverdienstkreuz nominiert werden? Oder sind wir einfach nur nicht ganz dicht? Okay. Schließen Sie die Tür. Ziehen Sie die Vorhänge zu. Denn jetzt packen wir aus. Wir verraten Ihnen unser Betriebsgeheimnis.“ Der Prolog, oder der erste Absatz eines Fließtexts, muss Thema und Konflikt entwickeln, zuspitzen und wie ein Cliffhanger wirken. Wer diesen Prolog von Jet liest, will weiterlesen. 

b. Die Exposition

Es handelt sich hierbei um das Etablieren der Ausgangssituation: der Handlungsort, die Zeit, die Protagonisten und das Thema. Die Exposition enthält bereits alle Elemente, die Ausgangspunkt des Konflikts sind. Diese müssen deutlich herausgestellt werden, damit Erwartungen stimuliert werden und rückblickend einleuchten. Allerdings sollten die Merkmale nicht den Verlauf und das Ende vorwegnehmen oder nahelegen. 

c. Das auslösende Ereignis

Das auslösende Ereignis ist der größte mögliche Konflikt und Voraussetzung und Start jeder Geschichte. Es weckt Aufmerksamkeit, löst Spannung aus oder eröffnet einen Widerspruch, der nach Klärung verlangt. Jede erzählerische Struktur enthält wenigstens eine Ausgangssituation, die in einer veränderten Endsituation mündet. 

d. Das Ziel und die Zielentwicklung

Bereits das auslösende Ereignis legt die Spur zum Ziel und bringt das Thema der Story hervor. Das Ziel (emotionales Versprechen, Nutzen, Reason Why) steht dem Konflikt gegenüber und muss unverschlüsselt, klar und deutlich erkennbar sein. Dieser Moment ist prägend und dient in der gesamten weiteren Handlung als Motiv. Zum Beispiel dem auslösenden Ereignis „Meine Pickel bringen mich um“ steht das Ziel gegenüber, sie so schnell wie möglich loszuwerden. 

Wie der Konflikt kehrt auch das Ziel mit seinen unterschiedlichen Aspekten immer wieder. Ein Fehler vieler Unternehmenstexte ist, dass sie sich permanent in der Zielentwicklung befinden. Der Texter will natürlich die Versprechen, Nutzen und Reason Why abarbeiten, aber merkt meist nicht, dass der Text an genau diesen Stellen Spannung verliert. Das beste Rezept ist, diese Stellen der ausführlichen Zielentwicklung mit Konflikten, zum Beispiel in den Zwischenüberschriften, zu brechen. Schon steigt die Spannung wieder an und ein weiterer Pain Point ist bearbeitet.

Ein wunderbarer Text in einem Katalog ist für den Hersteller für Berufsbekleidung Hakro. Er geht emotional und eindrucksvoll vom auslösenden Ereignis „Tausendmal berührt“ in die Zielentwicklung „Tausendmal nichts zerstört“ und untermauert die emotionale Formulierung der Headline mit dem rationalen Nutzen-Versprechen. Wir schlagen den Katalog auf und unser Auge fällt auf folgende Headline: „Tausendmal berührt. Tausendmal nichts zerstört.“ Sub-Headline: „Unsere Knöpfe und Reißverschlüsse halten ganz schön was aus.“ Fließtext: „Wir beziehen alles, was wir nicht selbst herstellen, von erstklassigen Anbietern.“ Wie unsere Knöpfe aus besonders starkem verdichteten Polyester. Oder die Reißverschlüsse, Haken und Ösen von YKK – der weltweiten Nr. 1 für Reißverschlüsse. Deshalb gibt´s auch bei der Tausendsten Berührung kein Reißen oder Ratschen.“

e. Der Konflikt und die Komplikation

Wichtig ist, dass der Konflikt im auslösenden Ereignis im Text unter neuen Aspekten wiederkehrt. „Meine Freunde schauen nur noch auf meine Pickel “, „sie nennen mich Pickelmonster“ „manchmal weiß ich gar nicht wo ich hinschauen soll.“ usw. Nur so entsteht Spannung. Auf der Basis des Konflikts entwickelt sich die Geschichte weiter. Konflikte involvieren den Leser, denn im Idealfall sind es deren persönliche Konflikte. Im Gegensatz dazu erstrahlen die nachfolgenden Versprechen, Botschaften und Lösungen im hellsten Licht. Der Weg für eine Struktur, vom Problem zur Lösung, ist damit eröffnet. Der Wechsel von Konflikt und Ziel nennt sich Komplikation. Es sind die Hindernisse, Motive oder Einstellungen, die sich dem Ziel in den Weg stellen. Jede Komplikation bestätigt die Notwendigkeit des Ziels und dient der Herstellung einer neuen Ordnung. Komplikationen dienen dem Spannungsaufbau und lassen die Zielgruppe an der Aufgabe und ihrem Ziel wachsen. Eine bewährte Erzählstruktur ist der Dreierschritt: drei Schwierigkeiten, drei Fragen oder drei Wahlmöglichkeiten. Der Dreierschritt ist die perfekte Spannungssteigerung kurzer Erzählungen.

Wie baut man Konfliktlinien?

Drama und Spannung entsteht dort, wo die Konflikte so stark sind, also gegensätzliche Positionen aufeinandertreffen, dass eine Auflösung unwahrscheinlich erscheint. Drei Konfliktlinien sind denkbar: 

Der globale Konflikt zwischen einem Menschen und seiner Umwelt und umgekehrt. Eine normale Figur steht in Konflikt mit einer widrigen und absurden Welt oder eine nicht angepasste Figur steht im Konflikt mit einer normalen Welt. 

Der lokale Konflikt besteht zwischen Menschen. In diesem Fall steht eine komische Figur einer normalen gegenüber und umgekehrt oder zwei gegensätzliche Figuren, die nichts vereint, spielen gegeneinander. 

Der innere Konflikt beschreibt den Konflikt in uns. Das schlechte Gewissen, eine Unzufriedenheit oder der Unterschied von Schein und Sein. Eine normale Figur wandelt sich zu einer unangepassten, komischen, absurden oder umgekehrt. Hier findet eine Einstellungsänderung und Wandlung der Person statt.

f. Der Höhepunkt

Der Höhepunkt ist die Sequenz mit der höchsten Spannung. Spannung ist der wichtigste Aspekt der Erzählung. Steht am Anfang ein Konflikt, ist der Leser neugierig auf dessen Ausgang. Besitzt er dabei so viele Informationen wie der Protagonist selbst, wird er mit ihm, im Moment der Entscheidung, mitfiebern. Weiß der Leser mehr als die handelnde Person einer Geschichte, dann wird er gespannt sein, wie der Held in den entscheidenden Situationen reagiert. Wenn der Spannungsauslöser eine Information ist, die alle außer dem Protagonisten kennen, entsteht zum Beispiel Spannung durch Neugier. Eine Gewissensfrage, die Sie sich immer stellen sollten: Wo liegt der Höhepunkt meines Textes?

g. Der Wendepunkt, überraschende Wendung

Wie bereits erwähnt, darf man von Geschichten das Unerwartete erwarten. Die überraschende Wendung am Ende stellt den Verlauf der Geschichte auf den Kopf und erfolgt nach dem Höhepunkt. 

Die überraschende Wendung

Längere Erzählungen beziehen Spannung durch den ständig wechselnden, unerwarteten Handlungsverlauf und/oder den Wandel der Charaktere. Ist das Ende eines Texts absehbar, besteht die Gefahr der Langeweile. Entscheidungen für komplexe Güter werden nicht von heute auf morgen getroffen, sondern brauchen Zeit. Denn Menschen, die Fragen stellen, treffen diese Entscheidungen. Zweifel, Ängste, Befürchtungen und Erwartungen spielen eine Rolle. Welche Fragen könnten das sein? Stellen Sie sich diese Fragen und antworten Sie. Dann befinden Sie sich im Kopf der Zielgruppe.

Die überraschende Wendung steht für das Unerwartete in der Erzählung. Die Handlung nimmt einen überraschenden Verlauf, indem sie vom Erwarteten abweicht. Sie gibt der Geschichte eine neue Bedeutung und Botschaft. Dadurch wird eine unerwartete Perspektive offenbar. Idealerweise bringt die überraschende Wendung den Nutzen oder das Versprechen hervor. Je überraschender und bedeutungsvoller die Wendung, desto stärker die kathartische Wirkung beim Leser. Eine reinigende Erkenntnis, die den Betrachter von der Spannung der Erzählung erlöst und die tiefere Erkenntnis ermöglicht. Idealerweise wird dadurch der eigentliche Gegenstand der Handlung und das Versprechen/der Nutzen deutlich. 

h. Die Auflösung des auslösenden Ereignisses

Mit dem Wendepunkt einher geht meist die Tilgung des auslösenden Ereignisses. Alle offenen Fragen werden geklärt. Man spricht von der Wiederherstellung des Gleichgewichts. Die anfängliche Ordnung wird ganz oder teilweise beseitigt und das auslösende Ereignis findet eine Auflösung, auch Tilgung genannt. Die Auflösung stellt ein neues Gleichgewicht her. Das Ende der Geschichte wird auf den Anfang zurückgeführt.

Storytelling offline vs. online vs. Social Media

Was wirkt in den sozialen Medien? Katze, Baby, Unfall erscheint wie eine Zusammenfassung der wirkungsvollsten Inhalte. Für seriöse Inhalte sollten Sie sich daran nicht orientieren, aber die extreme Lautstärke und die störenden Nebengeräusche in den sozialen Medien sind nicht mehr zu überhören.  Auffällig ist, dass die Posts immer aggressiver werden. Dramaturgisch wird dies durch starke auslösende Ereignisse erreicht. Hier einige Posts und Teaser von BuzzFeed. Headline: „Diese wahren Geistergeschichten werden Dich nachts nicht schlafen lassen.“ Fließtext: „Ich hatte zu viel Angst, um mich zu bewegen und zog mir die Decke über den Kopf, als ich merkte, dass die Schritte näherkamen …“ Headline: „25 Flachwitze, bei denen Du sagst: ‚So schlecht, dass er wieder gut ist.‘“ Fließtext: „Du wirst weinen vor Lachen!“ Nächste Headline: „Ein Kind hat eine Legofigur aus 10.000 Teilen zerstört, deren Bau drei Tage gedauert hat.“ Fließtext: „Manchmal fallen Dinge auseinander …“ Und die nächste Headline: „Jeder Game-of-Thrones-Tod, sortiert nach Traurigkeit.“ Ein Beitrag von HuffPost via bunte.de mit der Headline: „Oh nein, es bedeutet nichts Gutes! Machen wir das nicht eigentlich alle?“ Abbildung eines Paars. Teaser:„Partnerschaft: An diesen Anzeichen erkennen Psychologen, ob eine Beziehung für immer hält. Gibt es das Geheimrezept für die ewige Liebe? Der US-amerikanische Psychologe John Gottman kann in wenigen Minuten sagen, ob eine Beziehung lange hält …“ Unabhängig davon, ob es sich um eher nachrichtlich geprägte Seiten handelt oder um Unternehmensseiten, der Ton wird rauher.

Frei zitiert aus: Albert Heiser, Wirkstoff Werbetext, Storytelling on- und offline. Für Konzeptioner, Werbetexter, Grafiker, Autoren, Redakteure und Auftraggeber, Springer Gabler 2019