Vom Pain Point des Kunden zum innovativen Produkt. Job-to-be-done-Logik in der Praxis

2. September 2017

von Alice Šáchová-Kleisli und Beat Walther

Der Kunde als Transformationskraft

Customer Centricity ist das zentrale Thema, das zur Zeit viele Organisationsveränderungen, Produktentwicklungen und Marketing- & Verkaufsinitiativen bestimmt. Zu Recht, denn in den letzten Jahren sind Kunden, Konsumenten und Nutzer mehr denn je zu einer aktiven Marktmacht geworden. Das Internet, mobile Technologien und Social Media geben Kunden Mittel in die Hand, mit denen sie die Spielregeln zu ihren Gunsten ändern können. Praktisch in jeder Branche.

Offen bleibt, wie konsequent und in welchem Ausmaß diese neu entdeckte Kundenorientierung die Strategie und Verhaltensweisen von Unternehmen wirklich zu beeinflussen vermag. Denn wer eine Transformation weg von Technologiedominanz oder Verteidigung des Geschäftsmodells einleiten will, muss einen Perspektivenwechsel innerhalb der Organisation herbeiführen. Der Blickwinkel geht nicht mehr vom Unternehmen, seinem Geschäftsmodell und seinen Produkten auf die Kunden, sondern vom Kunden und dessen Lebenswirklichkeit auf dessen Bedürfnisse und Motive.

Gewinner sind Unternehmen, die im voraus erkennen, was Kunden antreibt und die in der Lage sind, ihre Leistungen entsprechend zu gestalten.

Fallstricke beim Perspektivenwechsel

Damit der Perspektivenwechsel unmissverständlich erfolgt und auf allen Hierarchieebenen und Funktionsbereichen Wirkung erzielen kann, sind drei Fallstricke zu vermeiden.

Fallstrick 1: Verzerrte Wahrnehmung der Organisation.

Jeder Mitarbeiter nimmt selektiv wahr. Ein Produktentwickler entscheidet aus Ingenieursicht und verfolgt seine technische Agenda. Ein Verkaufsberater ist in Gedanken beim letzten Kundenmeeting: Preisforderungen, Qualitätsprobleme oder Produktvorteile der Konkurrenz. Die Geschäftsleitung fokussiert sich auf die Verteidigung der Profitmarge und auf die Ansprüche der Aktionäre. Die selektive Wahrnehmung wird weiter verzerrt durch systematische Unschärfen im Beurteilungsvermögen. So neigen Menschen dazu, nach Bestätigungen für ihr Denken zu suchen („confirmation bias“) oder sich selbst zu überschätzen („over-confidence bias“). Diese Phänomene sind wissenschaftlich gut belegt (Bazerman 2013).

Fallstrick 2: Kunden bleiben in ihrem Erfahrungsrahmen.

Kunden wissen nur, was sie selbst erfahren oder gehört haben. Sie können sich etwas nicht vorstellen, was es noch nicht gibt. Fragt man sie direkt nach Innovationen, neuen Technologien oder Dienstleistungen, sind sie hilflos (Ulwick 2002). Kunden hätten nie das Faxgerät erfunden, hätte man sie nach neuen Ideen zum Briefverkehr gefragt. Kein Kunde würde vorschlagen, statt mit seinem Geldbeutel mit einer Armbanduhr zu bezahlen. Deswegen führt das Befragen von Kunden zu neuen Lösungen bestenfalls zu marginalen Verbesserungen oder – noch schlimmer – zu einer weiteren Angleichung der Angebote im Markt.

Fallstrick 3: Kundenverständnis mit zu geringer Tiefe.

Menschen beurteilen ein Produkt oder eine Dienstleistung aufgrund von Hunderten von Erwartungskriterien. Viele Unternehmen kennen diese Erwartungskriterien nicht. Sie bleiben auf der Ebene von generischen Bedürfniskonzepten stehen wie z.B. dem Wunsch nach Flexibilität, nach Bequemlichkeit, nach Sicherheit oder nach Qualität. Auf diesem Abstraktionsgrad sind Bedürfnisse ungeeignet, um eine Transformation zu steuern oder erfolgreiche Innovationen zu entwickeln.

Job-to-be-done-Logik

Die nachfolgend vorgestellte Job-to-be-done-Logik vermeidet diese drei Fallstricke, da sie a.) strikt die Kundenperspektive einnimmt und so Wahrnehmungsverzerrungen aus der Unternehmens-Innensicht ausschaltet, b.) Lö-sungen konsequent ausblendet und so den limitierenden Erfahrungsrahmen der Kunden sprengt, c.) die Kundenrealität dank explorativer Methoden in kleinste Einheiten aufbricht und so konkrete und präzise Erwartungskriterien aufdeckt.

Die Grundidee von Job-to-be-done ist einfach: Bei allem, was Menschen tun, verfolgen sie funktionale, emotionale oder soziale Ziele. In der Job-to-be-done-Logik werden diese Ziele „Jobs“ genannt. Um das jeweilige Ziel zu erreichen, nutzen Menschen Hilfsmittel, z.B. ein Produkt oder einen Service. Jedes Mittel wird danach beurteilt, wie gut es sich eignet, um den Job zu meistern. Ein Job wie z.B. „über Distanz zu kommunizieren“ wird durchgeführt mit Hilfe von WhatsApp, Telefon oder Brief. Ein Job ist lösungsneutral und kann deshalb über lange Zeit unverändert bleiben. Dagegen unterliegen Hilfsmittel einem technologischen Wandel. Ein Hilfsmittel wird solange genutzt, wie es dem Nutzer ausreichend dient. Ein Wechsel zu einer neuen Lösung erfolgt erst, wenn diese es aus Sicht des Nutzers „wert“ ist.

Im ersten CFI-Schritt (Exploration) werden Management und Teams aus ihrer Wahrnehmungsrealität herausgeholt. Eine vertiefte Exploration mit Kunden oder Nutzern deckt möglichst unverfälscht Verhalten und konkrete Erwartungen rund um die Produktnutzung auf. Das bestehende subjektive Kundenverständnis wird so durch ein möglichst authentisches Verständnis der Lebenswirklichkeiten der Kunden ergänzt und hilft, vorgefasste Meinungen und Vorstellungen aufzuweichen.

Im zweiten CFI-Schritt (Value Mapping) werden relevante Schmerzpunkte herausgefiltert. Diese geben neue Stoßrichtungen für Innovation, Geschäftsmodell und Marktauftritt. Dies wird erreicht, indem die Ergebnisse der Kundenexploration quantitativ erhärtet, wirkungsvoll dargestellt und die Implikationen diskutiert werden.

Im dritten Schritt (Impact) wird das neue Verständnis der Kundenwirklichkeit verankert und wachstumsbeschleunigend umgesetzt. Dies erfolgt, indem Entscheidungen, Prioritäten, Strategien und Maßnahmen gemäß Kundensicht erarbeitet werden. Die intensive Beschäftigung mit der Kundenrealität bewirkt, dass sich der Perspektivenwechsel realisiert und eine breit verankerte Kundenkultur entstehen kann.

CFI-Schritt 1 (Exploration):
Eine neue Kundenrealität aufdecken

Als erstes werden die für Kauf und Nutzung wichtigsten Einflussgruppen und deren Kontext bestimmt. Vor Einstieg in die Kundenexploration ist es entscheidend, den übergreifenden Kernjob der Kunden als Hypothese zu erarbeiten. Er muss ein Ziel oder einen Zweck ausdrücken, lösungsneutral formuliert sein und sollte weder zu generisch noch zu eng gefasst sein. Die Diskussionen und idealerweise eine erste Explorationswelle verändern bereits den Blickwinkel. Es wird z.B. klar, dass unterschiedliche Einflussgruppen in der Regel völlig andere Kernjobs verfolgen.

Basierend auf der entwickelten Hypothese zum Kernjob erfolgt die Tiefenexploration. Sie ist ein zentraler Baustein der CFI-Methode, um die Kundenrealität aufzudecken. Mit der Exploration wird das Verhalten der Kunden sowie deren funktionalen, sozialen und emotionalen Erwartungskriterien, sogenannte Value Metrics, vollständig und in Kundensprache für jeden Jobschritt erfasst. Am Ende sind meist 200-300 Erwartungskriterien aufgedeckt. Diese werden auf maximal 100 Erwartungskriterien kondensiert. Das intensive Befassen mit von Kunden formulierten Erwartungskriterien ist ein wichtiger Schritt, um ein neues, unverfälschtes Kundenverständnis zu entwickeln. Diese Erwartungskriterien folgen immer einer strengen Syntax und sind lösungsneutral formuliert.

Die relativ hohe Anzahl von ca. 100 Erwartungskriterien ist nach Erfahrung der Autoren nötig, um so konkret wie möglich zu sein.

Kundenrealität annehmen und akzeptieren

Mittels quantitativen Interviews werden alle identifizierten Erwartungskriterien durch Zielkunden bewertet. Dabei werden Wichtigkeit und Grad der Erfüllung im Alltag der Kunden abgefragt. Das Ergebnis dieser Validierung ist eine 4-Felder-Matrix, die sogenannte Kundenwert-Landkarte. So kann man in einem späteren Schritt definieren, wie die zukünftige Angebotsstrategie zu priorisieren und auszugestalten ist. Alle validierten Erwartungskriterien fallen in eine der vier Kategorien:

  • Wert aufbauen: Wichtige Kunden-Erwartungskriterien sind nicht ausreichend befriedigt und stellen sogenannte Schmerzpunkte (= Pain Points) für den Kunden dar. Sie zu adressieren stellt den größten Mehrwert aus Sicht der Kunden her. Hier besteht das höchste Potenzial, sich mit relevanten Innovationen vom Wettbewerb zu differenzieren.
  • Wert halten: Aus Sicht des Kunden sind dies Basisanforderungen (= Essentials), die ihm sehr wichtig sind, deren Erfüllung aber auch erreicht ist. Hier ergeben sich für Unternehmen wenig Möglichkeiten, sich zu differenzieren, aber unter Umständen viele Hausaufgaben, um mitzuhalten.
  • Wert reduzieren: Kundenerwartungen, die nicht wichtig und gleichzeitig überbefriedigt sind, bieten wertvolle Ansatzpunkte für Kosteneinsparungen (= Cost Savers). Hier ist in regelmäßigen Abständen ein offenes Hinterfragen des eigenen Angebots angebracht, da besonders aus diesem Quadranten disruptive Geschäftsmodelle entstehen können.
  • Wert im Auge behalten: Diese Erwartungskriterien (= Sleepers) können ignoriert und gegebenenfalls als Ideenquelle genutzt werden.

Bereits eine erste Analyse ergibt wertvolle Erkenntnisse für die Stoßrichtung der Transformation. Um die Kundensicht weiter zu schärfen, wird die Kundenwertkarte zusätzlich für weitere Kriterien erstellt, z.B. Sozio-Demographie, Region, Bedürfniscluster, Produktkategorie, Wettbewerb.

Kundenrealität verankern und adressieren

Ausrichten auf den Kunden als Zentrum der Geschäftsstrategie braucht eine breite Verankerung der Kundenkultur weit über das Marketing hinaus. Daher werden die Ergebnisse der CFI-Analyse sowohl mit dem Management wie auch mit der restlichen Organisation geteilt. Ziel ist nicht nur die Vermittlung der Ergebnisse, sondern vor allem die Erarbeitung von Strategien und Massnahmen pro Funktionsbereich wie auch übergreifend. Möglichst schnell werden aus den gewonnen Erkenntnissen die Prioritäten aus Kundensicht gesetzt und ein Vorgehensplan erarbeitet. Themen, die besonders helfen, die Transformation zu verankern, sind: Schärfung der Value Proposition für bestehende und neue Marktleistungen, Neuausrichtung der Innovationspipeline, Ideengenerierung für neue Innovationskonzepte und Entwicklung von neuen Elementen für das Geschäftsmodell.

Das gesamte Vorgehen wirkt zweifach beschleunigend auf die Geschäftsentwicklung. Erstens wird früh im Prozess klar, welche Ideen und Konzepte gute Erfolgschancen im Markt haben werden und welche nicht. Zweitens führt das so gewonnene Kundenwissen zu einer neuen Qualität der Ziel- und Vorgehensabstimmung in der Organisation. Spekulative Diskussionen verstummen und Entscheidungen rund um Innovation und Marktinitiativen erfolgen faktenbasiert. Der Go-to-market-Prozess wird dadurch wesentlich verkürzt.

Schlussfolgerung

Kunden treiben den Wandel mit ihrer Marktkraft – egal ob in B2B- oder B2C-Märkten – und steuern so die Entwicklung eines Unternehmens. Täglich von Neuem entscheiden sie mit ihrem Verhalten und ihrem Geld über Erfolg und Misserfolg einer Marktleistung.

Die Kunden – und nicht die eigene Technologiekompetenz oder den Wettbewerb – ins Zentrum der Geschäftsstrategie zu stellen, gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben jedes Führungsteams. Das lässt sich einfacher steuern und vorantreiben, wenn die ganze Organisation die Kunden möglichst umfassend und unvoreingenommen kennt und das gleiche Verständnis der relevanten, ungelösten Schmerzpunkte hat. Dabei kann die CFI-Methode mit ihrer Job-to-be-done-Logik einen Beitrag leisten. Sie ist eine bewährte Methode, die nicht nur Kundenerwartungen aufdeckt und validiert, sondern spezifische Inhalte für den ganzen Transformations-, Positionierungs- und Innovationsprozess liefert und so eine neue Entscheidungsbasis schafft.

Handlungsempfehlungen

1. Sich so unbelastet wie möglich auf die Lebenswirklichkeit des Kunden einlassen, um typische Unschärfen der eigenen Beurteilung zu vermeiden.
2. Die Job-to-be-done Logik nutzen, um den Nutzungsprozess und -kontext eines Produktes oder einer Dienstleistung aus der Kunden-, und nicht aus der Innensicht, zu begreifen.
3. Lösungsneutrale Erwartungskriterien der Nutzer so präzise und repräsentativ wie möglich aufdecken, um maximale Klarheit für die Stoßrichtung und Inhalte der Transformation zu erhalten.
4. Die neue Kundensicht als operativen Orientierungspunkt über alle Hierarchien und Bereiche verankern und damit den Kunden im übertragenen Sinn „an den Entscheidungstisch bringen“.